1. Eine unmittelbare Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung über die Bewerbung eines schwerbehinderten Menschen liegt nicht vor, wenn der Arbeitgeber der Schwerbehindertenvertretung nach Eingang der Bewerbung lediglich die Angaben und Unterlagen aller Bewerber*innen zugänglich macht.
2. Auch wenn schwerbehinderte Bewerber*innen die fachlichen Festlegungen im Anforderungsprofil einer Stelle nicht erfüllen, kann der öffentliche Arbeitgeber verpflichtet sein, sie zum Vorstellungsgespräch einzuladen.
LAG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 27.11.2019 – 15 Sa 949/19
(Leitsätze d. Verfasserin)
Die schwerbehinderte Klägerin erwarb im Jahr 1992 in einer Berufsfachschule einen Abschluss als staatlich anerkannte Grafik-Designerin und war danach als Grafikerin tätig. Im Jahr 2018 schrieb das Land Berlin eine Stelle als Grafikerin/Entgeltgruppe 10 TV-L aus. Nach dem in der Ausschreibung mitgeteilten Anforderungsprofil war ein Studium Kommunikationsdesign, Grafik (Bachelor oder FH-Studium) und eine mindestens dreijährige Berufserfahrung als Grafikerin oder Kommunikationsdesignerin erforderlich. Die Klägerin bewarb sich unter Hinweis auf ihre Schwerbehinderung auf die Stelle.
Beim Land Berlin werden Bewerbungen elektronisch erfasst. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist werden den Bereichen und Gremien die Angaben und Unterlagen elektronisch zugänglich gemacht. Auf die Stelle der Grafikerin/Entgeltgruppe 10 TV-L hatten sich 50 Personen beworben. Am 03.04.2019 waren für die Schwerbehindertenvertreterin die Angaben und Unterlagen einsehbar. Am 26.04.2018 war für sie ein Vermerk über die beabsichtigten Einladungen zum Vorstellungsgespräch und eine Bewerbungsübersicht, die auch Angaben zur Schwerbehinderung der Klägerin enthielt, sichtbar. Vorstellungsgespräche fanden am 04.05.2018 statt.
Nach Besetzung der Stelle mit einer Mitbewerberin und entsprechender Information der Klägerin forderte diese vom Land Berlin eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Ihre Klage war erfolgreich. Das LAG hat wie auch das Arbeitsgericht eine Entschädigung in Höhe von 6.345,10 Euro (zwei Monatsgehälter) als angemessen angesehen.
Nach § 15 Abs. 2 AGG ist ein Arbeitgeber verpflichtet, Stellenbewerber*innen eine angemessene Entschädigung zu zahlen, wenn er gegen das Benachteiligungsverbot in § 1 AGG verstoßen hat. Zu den verbotenen Benachteiligungen gehört die Benachteiligung wegen einer Behinderung. Oft sind Beschäftigte nicht in der Lage, in einem Rechtsstreit nachzuweisen, dass sie wegen eines in § 1 AGG genannten Grunds benachteiligt wurden. Damit sie ihre Ansprüche leichter durchsetzen können, reicht es daher aus, dass sie lediglich Indizien beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. Gelingt ihnen dies, muss der Arbeitgeber beweisen, dass in Wirklichkeit keine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vorgelegen hat (§ 22 AGG).
Nach der Rechtsprechung des BAG können ausreichende Indizien für eine Benachteiligung wegen einer Behinderung darin gesehen werden, dass der Arbeitgeber gegen gesetzliche Verfahrensregelungen verstoßen hat, die zur Förderung der Chancen schwerbehinderter Menschen geschaffen wurden. Daran konnte das LAG anknüpfen. Zum einen hat es einen Verstoß gegen § 164 Abs. 1 S. 4 SGB IX bejaht. Nach dieser Bestimmung haben die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung über Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten. Eine „Unterrichtung“, so das LAG, liegt nicht vor, wenn der Schwerbehindertenvertretung nur die Angaben und Bewerbungsunterlagen elektronisch zugänglich gemacht werden. Erforderlich ist vielmehr auch ein Hinweis, dass sich ein schwerbehinderter Mensch beworben hat. „Unmittelbar“ bedeutet, so das LAG, dass die Schwerbehindertenvertretung unverzüglich unterrichtet werden muss. Einen Hinweis, dass sich auch die schwerbehinderte Klägerin beworben hatte, erhielt die Schwerbehindertenvertreterin jedoch frühestens am 26.04.2018 mit der Bewerbungsübersicht. Das war nicht unverzüglich, da sich die Klägerin bereits am 30.03.2018 auf die Stelle beworben hatte.
Zum anderen hat das LAG einen Verstoß gegen § 165 S. 3 SGB IX bejaht. Nach dieser Bestimmung muss der öffentliche Arbeitgeber einen schwerbehinderten Bewerber zum Vorstellungsgespräch einladen, es sei denn, die fachliche Eignung fehlt offensichtlich. Nach der Rechtsprechung des BAG darf der öffentliche Arbeitgeber im Anforderungsprofil keine höheren Anforderungen verlangen als sie der vorgesehenen tariflichen Entgeltgruppe entsprechen. Da nach der Entgeltgruppe 10 TV-L kein Hochschulabschluss vorausgesetzt wird sondern gleichwertige Fähigkeiten und Kenntnisse genügen, musste die Klägerin zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden.
Fazit:
Während § 165 SGB IX allein den öffentlichen Dienst betrifft, gilt § 164 SGB IX auch für die Privatwirtschaft. Die Information der Schwerbehindertenvertretung, dass sich ein schwerbehinderter Mensch beworben hat, soll diese in die Lage versetzen, die Interessen schwerbehinderter Menschen sachgerecht zu vertreten und sich auf Augenhöhe mit dem Arbeitgeber auseinander zu setzen. Allein die (elektronische) Übermittlung der Angaben und Unterlagen der Bewerber*innen kann dies schon deshalb nicht gewährleisten, weil dabei Bewerbungen schwerbehinderter Menschen leicht übersehen werden können.
Ingrid Heinlein, Vorsitzende Richterin am LAG a.D., Rechtsanwältin
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