Rechenkunst! Arbeits- und Ruhezeiten bei mehreren Arbeitsverhältnissen

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Rechenkunst! Arbeits- und Ruhezeiten bei mehreren Arbeitsverhältnissen
Sigrid Britschgi, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht

Haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer*innen mehrere parallel laufende Arbeitsverhältnisse vereinbart, so gelten die europarechtlichen Vorgaben zur höchstzulässigen Arbeitszeit und zur Ruhezeit nicht für jedes einzelne dieser Arbeitsverhältnisse getrennt sondern werden zusammen betrachtet und gerechnet.
EuGH, Urteil vom 17.03.2021 – C 585/19
Leitsatz der Verfasserin

Für fast 10% der Erwerbstätigen ist die Frage relevant, in welchem Umfang sie in mehreren Beschäftigungsverhältnissen tätig sein dürfen und wie die arbeitsrechtlichen Vorgaben zur Ruhezeit zu berücksichtigen sind. Der europäische Gerichtshof hat die Antwort auf diese Fragen in seinem Urteil vom 17.03.2021 herausgearbeitet:

Im Ausgangsfall hat ein in Rumänien tätiges Institut für ein Forschungsprojekt Mitarbeitende auf Basis mehrerer Arbeitsverträge beschäftigt. In der Addition dieser Tätigkeiten aus verschiedenen Arbeitsverträgen überschritt die Summe des Arbeitsumfangs 13 Arbeitsstunden täglich. Das Institut hatte sich mit dem Argument verteidigt, dass das höchstzulässige Arbeitsvolumen für jedes einzelne Arbeitsverhältnis zu werten sei. Das für den Fall zuständige rumänische Gericht hat sich daraufhin an den EuGH gewandt und um eine Vorabentscheidung zu folgenden Fragen gebeten:
Ist unter dem Begriff der „Arbeitszeit“, wie er in Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG definiert ist, „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer … arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“ auf der Grundlage eines einzigen (Vollzeit )Vertrags oder auf der Grundlage aller von diesem Arbeitnehmer geschlossenen (Arbeits )Verträge zu verstehen?
Sind die europarechtlichen Vorgaben zur Einhaltung einer Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum und der Höchstgrenze für die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche auf 48 Stunden einschließlich der Überstunden dahingehend auszulegen, dass sie Grenzen für einen einzigen Vertrag oder für alle Verträge mit demselben Arbeitgeber oder mit verschiedenen Arbeitgebern festlegen?
Der EuGH hat sich aus mehreren Gründen dafür entschieden, dass bei mehreren Arbeitsverträgen eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen ist und die Arbeitszeit insgesamt und nicht nach einzelnen Arbeitsverträgen getrennt zu beurteilen ist.
Dafür spricht zum einen der Wortlaut, dass „jedem Arbeitnehmer“ eine Mindestruhezeit von 11 Stunden zu gewähren ist, woraus abgeleitet wird, dass der Schwerpunkt der Betrachtung der Arbeitnehmer selbst ist und nicht die Frage der Anzahl der Arbeitsverträge im Fokus steht.
Des Weiteren hat der EuGH darauf hingewiesen, dass sich die Begriffe Arbeitszeit und Ruhezeit ausschließen. Die Anforderung nach Art. 3 der Richtlinie, dass jedem Arbeitnehmer täglich mindestens elf zusammenhängende Ruhestunden gewährt werden, wird nicht erfüllt, wenn diese Ruhezeiten für jeden Vertrag zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber getrennt geprüft werden. In einem solchen Fall könnten die Stunden, die im Rahmen eines Vertrags als Ruhezeiten angesehen werden, im Rahmen eines anderen Vertrags Arbeitszeiten darstellen.
Schließlich weist der EuGH auf die Gefahr hin, dass bei einer getrennten Betrachtung die schwächere Position von Arbeitnehmer*innen verstärkt würde: Wären die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 über die tägliche Mindestruhezeit so aus-zulegen, dass sie gesondert auf jeden von einem Arbeitnehmer mit demselben Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrag anwendbar sind, wäre die Möglichkeit gegeben, dass der Arbeitgeber Druck ausübt, damit der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit auf mehrere Verträge aufgeteilt. Dies könnte der Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit nehmen.

Die praktischen Auswirkungen dieser Rechtsprechung im deutschen Arbeitsrecht lassen sich anhand einer Entscheidung des LAG Nürnberg vom 19.05.2020 – 7 Sa 11/19 – aufweisen:
Das LAG Nürnberg hat ausgeführt, dass es sich bei § 3 ArbZG (siehe unten) um ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB handelt. Führt der Abschluss eines zweiten Arbeitsvertrags mit einem anderen Arbeitgeber dazu, dass der Arbeitnehmer die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden überschreitet, hat dies grundsätzlich die Nichtigkeit des zuletzt abgeschlossenen Arbeitsvertrags zur Folge. Der Arbeitgeber braucht in diesen Fällen nicht einmal einen Kündigungsgrund, um sich von der/dem Beschäftigten zu trennen. Er kann sich schlicht unmittelbar auf die Nichtigkeit des Arbeitsverhältnisses berufen. Auch Kündigungsfristen spielen dann keine Rolle mehr.

Fazit:
Wer zusätzlich zu seinem (Haupt-)Arbeitsverhältnis noch einen Nebenjob ausüben will, sollte im eigenen Interesse prüfen, ob sich beide Beschäftigungsverhältnisse zusammengerechnet noch im Rahmen der höchstzulässigen Mindestarbeitsbedingungen des Arbeitszeitgesetzes bewegen. Dazu gehören vor allem:
§ 3 ArbZG: Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
§ 5 Abs. 1 ArbZG: Die Arbeitnehmer müssen nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden haben.

Sigrid Britschgi
Fachanwältin für Arbeitsrecht und Familienrecht
Windirsch, Britschgi & Koll Anwaltsbüro

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