Verkehrsexperten schätzen die Zahl der Verstöße gegen das Handyverbot auf 1,3 Milliarden jährlich. Anstatt das Smartphone sinnvoll in die Gesellschaft zu integrieren, bahnt sich das digitale Gerät mittlerweile seine eigenen – teils blutigen Wege – du
Immer mehr Menschen irrlichtern mit gesenktem Oberkörper durch dichtesten Straßenverkehr. Um sich gänzlich sozial abzuschirmen, hängt das Smartphone an zwei Strippen aus den Ohren heraus. Viele laufen – in bester Slapstick-Manier – gegen Laternen, in Fahrräder und Autos. Die meisten sind sich ihrer kleinen „Smartphone-Sucht“ durchaus bewusst und kokettieren damit sogar öffentlich. Zu wichtig scheint es geworden zu sein, in der eigenen Peergroup – auch digital – die Kontrolle zu behalten. Dabei sein ist alles.
Im Ausland ist das nicht anders. Im chinesischen Wenzhou beispielsweise hat der Fall einer jungen Frau die Behörden aufgeschreckt. Eine Überwachungskamera zeichnete auf, wie die Frau – vertieft in ihr Smartphone – von der Straße abkommt und in einen Fluss stürzt. Am nächsten Morgen entdeckt die Polizei ihre Leiche. Die Behörden wollen nun vor der grassierenden Display-Fixierung im Straßenverkehr warnen. Derweil haben die Landsleute im chinesischen Chongqing schon reagiert. Dort gibt es geteilte Fußwege, eine Gehspur ist speziell für Smartphone-Passanten gedacht.
Deutschland kontert nun mit Bodenampeln für die bedrohte Spezies der Dauer-Nutzer, die noch so quietschende Straßenbahn-Gesänge nicht mehr wahrnehmen. Und so bahnt sich die digitale Revolution ganz andere Wege als gedacht. Statt digital zu revoltieren riskieren Menschen, getrieben von unstillbarer Neugier, zunehmend ihr Leben – und das ihrer Mitmenschen. Und statt für schnelle digitale Wege unter der Straße zu sorgen, beampeln Städte wie Bonn oder Augsburg lieber ihre Smartphone-Bürger. Ist das der richtige Weg?
„Nein!“, meint Prof. Lembke: „Der Staat soll nicht die Symptome reparieren und die unentwegte Nutzung mit Smartphone-Ampeln auch noch befeuern. Stattdessen sollte er deutlich mehr in Aufklärung und Prävention investieren. Viele junge, und auch erwachsene Menschen zeigen fast schon pathologische Verhaltensweisen. Mir schwebt zum Beispiel eine Kampagne wie seinerzeit der 7. Sinn vor.“
Dekra untersucht Smartphone-Verhalten von Passanten
Die jüngst erschienene DEKRA-Untersuchung unterstreicht den Trend zu ungebremster Smartphone-Sucht in den Innenstädten. Die DEKRA-Unfallforscher waren in Amsterdam, Berlin, Brüssel, Paris, Rom und Stockholm unterwegs und beobachteten dort an stark Fußgänger-frequentierten Stellen die Smartphone-Nutzung der Passanten.
Das Ergebnis: 23, 5 Prozent der Stockholmer Fußgänger nutzten ihre mobilen Digitalgeräte am häufigsten, gleich gefolgt von Berliner Passanten (14,9). Am Ende der Liste finden sich die Amsterdamer Bürger (8,2 Prozent). In Rom waren es 10,6 Prozent, in Brüssel 14,1 Prozent und in Paris 14,5 Prozent. Über alle Städte und Altersgruppen hinweg tippten knapp acht Prozent der Fußgänger beim Überqueren der Straße Texte ins Smartphone. Weitere 2,6 Prozent telefonierten und rund 1,4 Prozent übten sich im Multitasking-Triathlon: Sie liefen, telefonierten und tippten zugleich. Rund fünf Prozent trugen Ohrstöpsel oder Kopfhörer und hörten vermutlich Musik. Die Altersgruppe zwischen 25 und 35 Jahren nutzte das Smartphone in der Innenstadt am häufigsten (22 Prozent).
Die meisten dieser Fußgänger verunglücken innerorts, in Deutschland sind das etwa 70 Prozent. Falsches Verhalten der Fußgänger macht dabei etwa zehn Prozent aus, häufigste Ursache: das Nichtbeachten des Fahrzeugverkehrs – verursacht zunehmend durch Smartphone-Nutzung.
„Wir denken, dass es sich dabei nur um wenige Süchtige handelt und wir selber nicht betroffen wären“, so Professor Lembke. „Doch das Fehlverhalten hat in den vergangenen Jahren signifikant zugenommen. Das wäre nun der richtige Anlass, die digitale Medienkultur zu gestalten und über deren Werte zu streiten.“
Fast zehn Prozent mehr Verkehrstote in den USA
Während Europa seine digital-gesteuerten Fußgänger ins Visier nimmt, haben US-amerikanische Forscher zum ersten Mal in einer Langzeitstudie valide Daten über die Nutzung von digitalen Geräten in Autos erhoben. Während dreier Jahre beobachteten die Forscher der Universität Virginia 3500 Autofahrer zwischen 19 und 98 Jahren mit Fahrtenschreibern, Tonband- und Filmaufnahmen. Dabei ermittelten sie die Art und Häufigkeit von „Ablenkungen“ während der Lenkzeiten. Neben „Essen“ und „Unterhaltungen mit dem Beifahrer“ macht die Beschäftigung mit elektronischen Geräten während der Fahrt den Forschern zufolge zehn Prozent der Fahrtzeit aus. Der Griff zum Handy steigert die Unfallgefahr um das Fünffache, das Schreiben einer SMS jedoch schon um das Zehnfache. Rechnet man die US-Daten auf deutsche Verhältnisse um, so passieren in Deutschland schon jetzt 50.000 Unfälle pro Jahr – wegen ablenkender Nutzung durch digitale Geräte im Auto.
Zwar geht seit Mitte der 1990er Jahre die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle in den Industrieländern zurück. Doch der Rückgang stockt: So starben in den USA in den ersten neun Monaten des Jahres 2015 neun Prozent mehr Menschen als im Vorjahreszeitraum. Auch in Deutschland steigt laut Prognosen des Statistischen Bundesamts die Zahl der Todesopfer seit zwei Jahren in Folge.
Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) ist der Ansicht, dass die Fahrer „die Handynutzung für ein Naturrecht halten“. Vor allem Jüngere könnten dem Smartphone-Druck kaum eine halbe Stunde widerstehen, „es ist wie ein Drogenentzug. Sie schaffen es nicht.“
Momentan versprechen die Zahlen nichts Gutes. Was können Empfehlungen für Politik und Gesellschaft sein? „Es ist zwingend erforderlich, vor der Gesetzgebung und vor irrsinnigen Ampelprojekten Aufklärungsarbeit zu leisten. Hier fehlt es noch an hinreichender Sensibilität in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre“, sagt Professor Dr. Gerald Lembke von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.
Gerald Lembke ist Studiengangsleiter, Buchautor und Berater für den Einsatz und den Umgang mit Digitalen Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Buch „Die Lüge der Digitalen Bildung“ (mit Ingo Leipner) erzeugte große Aufmerksamkeit in internationalen Medien. Lembke ist Präsident des „Bundesverbandes für Medien und Marketing“ (BVMM), einem aktiven Netzwerk für Digitalität in Marketing und Vertrieb. Er fördert den Austausch und die Vermittlung zwischen Digital Natives und Wirtschaft.
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