Von Brigitte Herrmann
Zwischenzeitlich hat der neue amerikanische Präsident seine Arbeit aufgenommen und befindet sich nun für 100 Tage in einer Art Probezeit. Und obgleich sämtliche Experten weltweit heiß diskutieren, ist eines sicher: Eine zuverlässige Prognose, inwieweit er seinen Job erfolgreich bewältigt, gibt es nicht. Ein Dilemma, vor dem auch die Personalabteilungen von Wirtschaftsunternehmen tagtäglich stehen. Sie müssen die Herausforderung bewältigen, für eine Position den wirklich richtigen Kandidaten zu finden inklusive der Überzeugung, dass dieser sich in seinem neuen Job tatsächlich bewähren wird. Hier gilt für Entscheider vor allem eines: Irreführende Denkfallen vermeiden.
Wer eine hohe – wenn nicht gar die höchste – Position innerhalb einer Organisation besetzen muss, steht letztendlich vor dem gleichen Problem wie jüngst die amerikanischen Bürger. Zwar ist die Personalauswahl in der Wirtschaft in der Regel weniger heterogen und polarisierend – die zentralen Fragen sind jedoch in beiden Fällen die gleichen: Wen brauchen wir wirklich? Brauchen wir einen Branchenprimus oder Quereinsteiger, brauchen wir einen Mainstreamer oder ist der unbequeme Innovator möglicherweise die bessere Wahl im Sinne des Unternehmenserfolgs? Fakt ist: Die Beantwortung dieser Frage erfordert nicht nur die Fähigkeit, den Blick weit über den Tellerrand zu heben, sondern auch auf Abstand zu stereotypen Vorstellungen, Idealvorstellungen und eigenen Befindlichkeiten zu gehen. Nötig ist somit der Mut zur Disruption in der Personalauswahl.
Ein kurzer Blick zurück auf die Ereignisse der US-Wahl beleuchtet diese Herausforderung mehr als deutlich. Überspitzt gesehen stand hier zum einen der weibliche Branchenprimus in Sachen Politik zur Auswahl – mit mehr als 40 Jahren Erfahrung in politischen Strukturen. In dieser Hinsicht war sie – da waren sich die meisten Experten und Möchtegern-Experten landauf und landab sehr schnell einig – automatisch die bessere Kandidatin für das US-Präsidentenamt. Ganz anders ihr lautstarker, politisch unkorrekter und kantiger Mitbewerber, dem fast jeder der besagten Experten das Potenzial für einen Job in der Politik sofort absprach, weil er noch kein politisches Amt innehatte. Doch genau hierin besteht einer von mehreren Denkfehlern, denn die möglichen Vorteile von unternehmerischem Geschäftssinn und wirtschaftlichem Erfahrungswissen wurden in keiner Weise ins Kalkül gezogen, sondern schlichtweg ignoriert. Die Bürger der USA dagegen haben diese mögliche Chance erkannt, sich dafür entschieden und damit die Experten und das politische Establishment eines Besseren belehrt.
Aus der US-Wahl für das Recruiting lernen
Doch zurück zum Arbeitsmarkt. Das beschriebene Szenario eignet sich als Lehrstück auch für die Personalauswahl, weil hier ebenfalls Tunnelblick und das Ignorieren individueller Kompetenzen und Eigenschaften zu Fehleinschätzungen und somit zu Fehlbesetzungen führen können. Dass bei einer Personalentscheidung nicht nur die fachlichen Fähigkeiten, sondern auch die Persönlichkeit entscheidet, ist längst bekannt. Umso wichtiger ist darum ein unvoreingenommenes Bild eines Kandidaten, das den Menschen mit all seinen Facetten, sprich Kompetenzen, Erfahrungen, Stärken und Interessen, würdigt. Und genau hier gilt auch, die mit einer Entscheidung verbundenen Nebenwirkungen zu bewerten, um die mögliche Professionalisierung des Falschen zu vermeiden.
Immer mehr Unternehmen erkennen außerdem, dass sich angesichts von demografischer Entwicklung, Digitalisierung und Co. auch etwas in Sachen Recruiting ändern sollte. So stellt sich also die spannende Frage: Wer entscheidet in Zukunft in einer Arbeitswelt, die in großen Teilen demokratischer geprägt sein wird, wer den Job bekommt? Einige simple Regeln können Entscheidern bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe sehr hilfreich sein:
1. Erst der Mensch, dann der Job
Personalauswahlprozesse sollten sich endgültig von der vakanzbasierten Denke à la “Wir wollen die Stelle XY besetzen” verabschieden. Künftig gilt vielmehr: Die Arbeit wird an den Menschen angepasst und nicht der Mensch an die Arbeit. Im Sinne eines flexiblen Jobprofilshaben allzu enge, starre und idealistische Beschreibungen ausgedient. Das Erfolgsgeheimnis liegt in der Offenheit gegenüber dem, was ein Interessent insgesamt zu bieten hat, um daraus den für ihn passenden Job zu kreieren.
2. Potenziale intelligent entdecken
Die Bereitschaft, das Beste im Menschen zu sehen und zu verstehen, wird mehr denn je zum entscheidenden Faktor für den Erfolg einer Stellenbesetzung. Dazu gehört zum einen das strukturierte Ermitteln der individuellen Stärken und Interessen, denn erfolgreich ist nicht der Kompetenteste, sondern der, der für seinen Job wirklich brennt. Hierzu eignen sich eine Stärkenanalyse ebenso wie ein Stärken-Interview im Sinne eines Appreciative-Inquiry-Interview. Dazu gehört aber auch das Wertschätzen bewältigter Krisen und Niederlagen in unterschiedlichsten Bereichen einschließlich der daraus resultierenden Erkenntnisse und Erfahrungen. Genau das wird künftig mehr an Bedeutung gewinnen als der steile Karriereaufstieg innerhalb einer Branche. Und genau hier ist ein klarer Perspektivenwechsel der Entscheider gefragt.
3. Die Intelligenz der Vielen
Wie im amerikanischen Wahlkampf so wird es auch in Recruitingprozessen – nicht nur auf der obersten Ebene, sondern in allen Bereichen – mehr und mehr darauf ankommen, die fachlichen Kompetenzen von Interessenten angesichts der Frage “Wen brauchen wir wirklich?” nicht zu über-, sondern vielmehr richtig einzuschätzen – und bei der finalen Entscheidung auch mal mutige Wege zu gehen. Arbeitgeber, die heute bereits in Auswahlprozessen ganz bewusst der Meinung der Mannschaft, sprich Kollegen, Mitarbeitern oder gar Azubis, Gehör schenken, haben mit dieser Vorgehensweise durchweg gute Erfahrungen gemacht. Es gilt das gute Gespür der Menschen und nach dem Mehr-Köpfe-Prinzip die Intelligenz (und eben nicht die Dummheit) der Vielen positiv zu nutzen.
4. Mut zur Disruption
Wer trifft die bessere Entscheidung? Experten oder die Gemeinschaft? Und wer entscheidet, wer ein Experte ist? Glauben wir zu leicht all das, was Experten in Politik und Wirtschaft verbreiten, ohne uns eine eigene Meinung zu bilden? Sind wir bei der Vergabe von Einfluss und Macht an Experten, nicht in manchen Fällen längst über das Ziel hinausgeschossen? Sollten ständige Schwarz-Weiß-Maler hinterfragt werden, die die vielen Grautöne übersehen und den Blick nur auf Risiken und nicht auch auf Chancen richten? Wer seine Personalauswahl zukunftsfähig aufstellen will und bereit ist, seine bisherigen Prozesse auf den Prüfstand zu stellen und mutig neue Wege zu gehen, hat schon den ersten wichtigen Schritt getan. Organisationen bei diesem Umdenken zu unterstützen, wird auch mehr und mehr Aufgabe von Beratungsunternehmen sein, die sich weniger um den eigenen Umsatz als das Wohl der Kunden bemühen.
Disruption ist nun auch das Schlagwort in Sachen Weltpolitik. In den USA ist die Wahl in jedem Fall auf eine neue Art von Präsident gefallen – ganz gleich, wie man zu ihm steht. Die Frage ist nur: Was wäre, wenn nicht er in das Amt gewählt worden wäre? Eines ist gewiss: Das amerikanische Volk hat entschieden und das gilt es allseits respektvoll zu akzeptieren. Und wie auch in der Wirtschaft sollte gelten, Veränderungen als Chancen zu verstehen.
Brigitte Herrmann ist Inhaberin des Beratungsunternehmens Inspirocon – Potenzialmanagement im Business. Als selbstständiger Headhunter besetzte sie 15 Jahre branchenübergreifend Spezialisten-, Leitungs- und Topmanagement-Positionen. Mit diesem Erfahrungswissen arbeitet Brigitte Herrmann seit 2004 auch als Management-Beraterin und Business Coach. Brigitte Herrmann gehört als Vortragsrednerin zu den Top 100 Excellence Speakern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Im März 2016 erschien ihr neues Buch – Die Auswahl. Wie eine neue starke Recruiting-Kultur den Unternehmenserfolg bestimmt.
Infos zu Büchern und Vorträgen: www.brigitte-herrmann.de
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