Endet das Leben mit einem energetischen Feuerwerk im Gehirn? Autor: Gundolf Meyer-Hentschel
Zum ersten Mal konnten Ärzte die Gehirnströme eines Sterbenden aufzeichnen. Die Analyse der Daten zeigte ein Hirnwellenmuster, das denjenigen ähnelt, die beim Träumen, beim Erinnern und bei Meditation auftreten. Nach Ansicht der Ärzte ist dies der erste physiologische Beleg, dass Schilderungen von Menschen, die eine Nahtoderfahrung hatten, realistisch sein können.
Die EEG-Daten legen nahe, dass unser Gehirn während und sogar nach dem Übergang zum Herztod über eine kurze Zeitspanne aktiv und koordiniert bleiben kann. In dieser Phase könnte es zu Lebenserinnerungen und traumähnlichen Erlebnissen kommen.
Die “Studie”
Ein 87-jähriger Patient war nach einem Sturz mit zwei suduralen Hämatomen in die Universitätsklinik von Tartu, Esland. eingeliefert worden. Nach operativer Entfernung des grösseren der Hämatome entwickelten sich am dritten Tag nach der Operation Komplikationen.
Im Verlauf der weiteren Behandlung wurde ein EEG aufgezeichnet. Während dieser Aufzeichnung erlitt der Patient einen Herzstillstand und verstarb. Durch dieses unerwartete Ereignis wurde zum ersten Mal die Aktivität eines sterbenden menschlichen Gehirns zum Gehirntod aufgezeichnet.
Die Auswertung und Interpretation der Gehirnströme (EEG)
An der Auswertung der Daten und der Interpretation der Ergebnisse, die am 22. Februar 2022 publiziert wurden, waren 13 Wissenschaftler aus Estland, Kanada und den USA beteiligt.
Die Originalquelle:
Vicente R, Rizzuto M, Sarica C, Yamamoto K, Sadr M, Khajuria T, Fatehi M, Moien-Afshari F, Haw CS, Llinas RR, Lozano AM, Neimat JS and Zemmar A (2022) Enhanced Interplay of Neuronal Coherence and Coupling in the Dying Human Brain. Front. Aging Neurosci. 14:813531. doi: 10.3389/fnagi.2022.813531
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnagi.2022.813531/full
Insgesamt standen 15 Minuten EEG-Aufzeichnungen zur Verfügung. Bei der Auswertung konzentrierten sich die Wissenschaftler auf 60 Sekunden, und zwar 30 Sekunden vor und 30 Sekunden nach Eintritt des Herzstillstands.
Die Erkenntnisse über die Gehirnströme eines sterbenden Menschen
Dr. Ajmal Zemmar, Neurochirurg an der Universität von Louisville, USA, der die Studie organisatorisch koordinierte: “Kurz bevor und nachdem sich der Herzstillstand ereignete, sahen wir Veränderungen in einem bestimmten Band von neuronalen Oszillationen (Gehirnwellen), den sogenannten Gamma-Oszillationen, aber auch in anderen Wellenbereichen wie Delta-, Theta-, Alpha- und Beta-Oszillationen.”
Diese Veränderungen hatten grosse Ähnlichkeit mit Veränderungen der Gehirnströme, die bei sterbenden Tieren beobachtet wurden, vor allem ein Anstieg der niedrigen Gamma-Band-Frequenzen 10- 30 Sekunden nach dem Herzstillstand.
Die Autoren der aktuellen Studie beziehen sich bei diesem Vergleich auf eine Untersuchung an der Universität Michigan, in der 2013 bei Ratten mittels implantierten EEG-Elektroden die Hirnaktivitäten bis zum endgültigen Gehirntod aufgezeichnet wurden. Im Zeitraum zwischen dem Herzstillstand und dem Null-Linien-EEG beobachteten die Forscher damals ein starkes Ansteigen der kognitiven Verarbeitungsprozesse. Allein die Gamma-Hirnströme im Frequenzbereich zwischen 25 und 55 Hertz stellten 50 % des gesamten EEG-Potentials, im normalen Wachzustand hatte ihr Anteil 5 % betragen. Auch die Ausprägung der Thetawellen stieg an und lag im Bereich des Wachzustands.
Sie kommen zu der Schlussfolgerung: Die allgemeine Ähnlichkeit der oszillatorischen Veränderungen zwischen der stark kontrollierten experimentellen Studie mit Tieren und der vorliegenden Arbeit legt nahe, dass das Gehirn während des Todes eine Reihe stereotyper Aktivitätsmuster durchläuft.
Damit würde die klassische Ansicht eines kaum aktiven Gehirns in der Sterbephase durch neuere Erkenntnisse, die elektrische Überspannungen am Ende des Lebens zeigen, in Frage gestellt.
Die Interpretation der Gehirnströme eines Sterbenden
Man kann die vorliegenden Erkenntnisse aus vielen Blickwinkeln betrachten. Im Blog der Wissenschaftsplattform Frontiers.org findet man die Zwischenüberschrift: Findings “challenge our understanding of when exactly life ends”. Das exakte Lebensende ist ein wichtiger medizinischer und juristischer Aspekt.
Als Verhaltenswissenschaftler stelle ich mir Fragen wie die folgenden: Warum beendet die Natur das Leben mit einem energetischen Feuerwerk im Gehirn? Worin besteht der Nutzen und für wen? Die Natur zeigt in abertausenden Situationen, dass sie höchst effizient arbeitet und keine Energie verschwendet. Warum also so viel Energie im Gehirn eines Sterbenden?
Als gerontologisch interessierter Mensch stelle ich mir die Frage, welche Bedeutung diese Erkenntnisse für medizinisches Fachpersonal haben könnten, insbesondere für palliativ Tätige und für die Sterbebegleitung.
Vielleicht kommen wir durch dieses aktuelle Forschungsergebnis auch dem Geheimnis Tod wieder einen Millimeter näher.
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