Wie verhalte ich mich als Versicherungskunde nach dem Urteil des BGH vom 16.07.2014 (IV ZR 73/13) ? Was tun mit Lebensversicherungen, die millionenfach in den Markt gedrückt worden sind; soll ich als Kunde eine bestehende Versicherung kündigen, verkaufen, weiter einbezahlen oder zahlungsfrei stellen? Welche Chancen eröffnen sich mir, wenn ich eine ausbezahlte Versicherung rückabwickeln lasse?
1.Problem: In der Bundesrepublik werden seit Jahrzehnten etwa 80 Millionen Lebensversicherungen gehalten; dank rühriger Vertreter und dank eines nachsichtigen Gesetzgebers lasten sie wie Ketten auf der Bevölkerung; diese massenhafte Verstrickung ist für die Versicherungswirtschaft lukrativ, für deren Kunden jedoch traurig:
2.Kündigen sie nämlich vorzeitig, müssen sie trotz jahrzehntelanger Einzahlung in der Regel nicht mehr als 50 Prozent ihrer Einzahlung erhalten, so der BGH.
3.Und selbst ein bis zum Ende gehaltener Vertrag rentiert sich nicht wirklich; jedenfalls nicht im Vergleich anderen Kapitalanlagen; etwa mit Versicherungsaktien, die seit Jahrzehnten hohe Gewinne abwerfen. Wer die Zahlen vergleicht, dem wird schwindlig.
4.Aufgrund dieser Schieflage sprechen Kritiker von Volksverdummung, sehen – bildlich gesprochen – einen Verhau, aus dem die Opfer befreit werden müssen – und befreit werden können. Sie müssen nur aktiv werden.
5.Lösung: Hilfe kommt von der Europäischen Union. Deren Richtlinien und Urteile sind für Versicherungsnehmer nützlich, müssen jedoch innerdeutsch fruchtbar gemacht werden müssen. Und das geht so:
6.Überprüfen Sie Ihre aktuelle und frühere Vertragssituation; prüfen Sie, ob Ihnen Geld nach dem 01.01.2011 aus einer Kapitallebensversicherung zugeflossen ist, oder ob Sie eine Lebensversicherung ab dem 01.01.2011 gekündigt haben. Oder, ob Sie noch über eine ungekündigte Lebensversicherung verfügen. (Versicherungscheck) Überprüfen Sie hierzu Ihre Versicherungsunterlagen, Ihre Kontoauszüge oder fragen Sie Ihren Makler, einen Versicherungsvertreter oder die Gesellschaft direkt. Anleitungen und Muster finden sie im Internet.
7.Finden Sie einen zeitlich passenden Vertrag, müssen Sie entscheiden, ob der Vertrag rückabzuwickeln oder zu kündigen ist. Dies heißt: Wenn Ihnen Geld schon zugeflossen ist, können Sie versuchen, diesen toten Vertrag wieder lebendig zu machen; hierzu benötigen Sie, bildlich gesprochen, einen Widerrufsjoker und als Mitspieler die Justiz. Wie dieses Spiel geht, wird nachfolgend erläutert.
8.Der BGH hat zwar am 17.07.2014 seine kundenfreundliche Linie verlassen. Aber – deswegen geht das Spiel weiter – dieses Urteil gilt nicht für all jene Verträge, in denen von der Versicherung unzulänglich belehrt worden ist. Und das sind Tausende. Liegt ein Belehrungsmangel vor, kann vom Kunden auch nach Jahren noch widerrufen werden; er kann mit Erfolgsaussicht vor den Kadi ziehen. Dies ist der Widerrufs-Joker.
9.Klappt die Rückabwicklung, gibt“s eine Nachzahlung, genannt großer Nachschlag, weil sich der aus einer Rendite errechnet, die zwischen 5 und 10 Prozent liegt; und zwar über Jahre. Es lohnt sich also, zumal Versicherungskunden nicht befürchten müssen, etwas zurückzahlen zu müssen, selbst dann, wenn Sie verlieren.
10.Aber es müssen die Justizkosten als Risiko gesehen werden. Wenn Sie über eine Rechtsschutzversicherung verfügen, zahl die den Prozess; allerdings sollte qualifiziert angefragt werden. Rechtsschutzversicherungen haben kein Interesse, Prozesse gegen ihre Schwester- oder Muttergesellschaften zu finanzieren. Überlassen Sie die deswegen die Anfrage einem Anwalt, denn Sie brauchen sowieso einen, am besten einen, der im Versicherungswesen fit ist, jedenfalls Erfahrung mit der prozessualen Rückabwicklung hat. Fragen Sie ihn.
11.Und denken Sie über alternative Finanzierungsinstrumente nach: angefangen von der staatlichen Verfahrenshilfe (für Arme) bis hin zu Prozessfinanzierungsfirmen, Sammelklagen, Verbraucherverbände und/oder Netzwerke, die Ihren Anspruch gegen Beteiligung oder gar auf eigenes Risiko einklagen.
12.Haben Sie einen „Bestandsvertrag“, läuft Ihr Vertrag also noch, müssen Sie prüfen, ob es sich lohnt, den zu kündigen. Für diese Prüfung sind zwei Wertaspekte wichtig:
13.Einmal, ob der Zeitvorlauf und der Typ Ihres Vertrags einen vorherigen Ausstieg sinnvoll erschei-nen lassen. Dies kann nur ein Fachmann entscheiden; fragen Sie beim Bund der Versicherten an oder bei einem hierauf spezialisierten Verbraucherverein.
14.Ein zweiter Aspekt sind die oben skizzierten Justizkosten. Wenn Sie kündigen und Ihnen der daraufhin zufließende Rückkaufswert zu gering dünkt, können Sie den überprüfen lassen; sie fordern dann den sogenannten kleinen Nachschlag, in der Regel ein paar Hundert Euro. Auch hier ist eine Rechtsschutzversicherung sinnvoll, denn Sie werden die Justiz bemühen müssen; selbst die Allianz muss sich nachsagen lassen, sie leide unter Rechenschwäche. Hieraus folgt: Haben Sie eine Rechtsschutzversicherung, die genutzt werden kann, empfiehlt es sich fast immer, zu kündigen. Dann nämlich können sie abwarten, was fließt und anschließend Nachprüfung nebst Nachzahlung einklagen.
15.Und wenn sich zeigt, dass Sie zudem noch über einen Widerrufsjoker verfügen, können Sie sogar noch nach der Auszahlung klagweise die Rückabwicklung verlangen; die zielt dann auf großen Nachschlag. Das klingt tückisch, ist aber zulässig. In diesem Fall sind Versicherungskunden in einer äußerst komfortablen Lage; denn Sie haben in der Tat nichts zu verlieren, außer ihren Ketten.
18.07.2014
Dr. Thomas Rieger
Rechtsanwalt
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Hohenzollernstrasse 11
80801 München
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