Irreführung statt Verbraucheraufklärung
sup.- Was soll auf der Vorderseite bei vorverpackten Lebensmitteln künftig stehen? Eine Nährwertkennzeichnung auf den Produkten ist seit 2016 verpflichtend. Auf der Vorderseite können Lebensmittelunternehmen zusätzlich Angaben freiwillig machen. Das soll durch europäisches Recht harmonisiert werden.
Ernährungsideologen sehen darin eine Chance, in das Ernährungsverhalten der Menschen einzugreifen. Sie wollen Kriterien für gesunde und ungesunde Lebensmittel kreieren und diese plakativ auf der Vorderseite positionieren, um damit Einkaufs- und Ernährungsverhalten der Verbraucher zu regulieren. Damit unterstellen sie, dass es grundsätzliche gesunde oder ungesunde Nahrungsmittel gibt. Die seriöse Ernährungswissenschaft liefert dazu keine valide Begründung. Vielmehr wird die gesicherte Erkenntnis, dass die Ernährung in ihrer Gesamtbilanz relevant ist und zudem der Lebensstil eines Menschen mit allen seinen Faktoren für die individuelle Gesundheit prägend ist, ignoriert.
Prof. Luca Piretta, Ernährungswissenschaftler an der Universität Rom, bringt die Kritik auf den Punkt: „Die Kommunikation mit den Verbrauchern über ein Etikett auf der Vorderseite der Verpackung muss informativ und lehrreich sein. Die Verantwortung für die richtige Ernährung auf die Bewertung eines einzelnen Produkts zu beschränken, das in einem Regal verfügbar ist, ist absolut irreführend und manchmal völlig kontraproduktiv, da man nicht wissen kann, wie viel von diesem Produkt konsumiert wird in welcher Art von Ernährung es eingeschlossen wird. Ganz zu schweigen vom Gesundheitszustand der Person, die es konsumieren wird.“
Ein Favorit in der bisherigen Diskussion war der Nutri-Score. Große Konzerne der Lebensmittelindustrie sahen die Möglichkeit, ihn als attraktives Marketing-Instrument zur Profilierung ihrer Produkte zu nutzen. Es ging nicht um gesundheitliche Aufklärung, sondern durch die Chance, in ihren Lebensmittel-Laboren durch ein angepasstes Design verarbeitete Lebensmittel einen möglichst guten Score zu entwickeln. Durch die Zugabe von Wasser verbessert den Score und Tricks bei den Zutaten machen aus einer Design-Pizza ein Fertiggericht mit grünem A. Auf der Strecke bleiben kleinere Hersteller und natürliche Lebensmittel mit einem schlechten Score. Reines Olivenöl erscheint plötzlich ungesund. Schmackhafter Parmesan ist bei den Punkten nicht mehr konkurrenzfähig. Traditionelle Schinken- und Wurstspezialitäten bleiben abgeschlagen auf der Strecke.
Die EU-Kommission scheint diese grundsätzliche Problematik inzwischen verstanden zu haben. Bis Ende 2022 sollte ein harmonisierter Vorschlag zur Nährwertkennzeichnung präsentiert werden. Nach einer Sitzung des Europäischen Parlaments ist eine Entscheidung jedoch zunächst auf das zweite Quartal 2023 verschoben worden.
In den EU-Ländern werden derzeit verschiedene Systeme verwendet. Diese sind neben dem Nutri-Score das nordische Schlüsselloch-System und das italienische NutrInform-Batteriesystem. Aus Sicht der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelgesundheit der Europäischen Kommission ist der Nutri-Score nicht der Favorit, sondern nur eine der Möglichkeiten, die in Betracht gezogen werden. Nach Meinung der Kommission ist die Debatte sehr komplex und eine Entscheidungsfindung noch lange nicht abgeschlossen. Ein rotes E für den Nutri-Score wegen seiner Unzulänglichkeiten und der sachlichen Kritik erscheint möglich. Und vielleicht wird auch noch bei den folgenden Beratungen die Frage nach der Sinnhaftigkeit von simplifizierender Werbung auf der Vorderseite der Verpackungen gestellt. Ernährungsaufklärung ist etwas anderes.
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